Das Wichtigste zur Verfassungsbeschwerde
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Was wären die Grundrechte wert, wenn der Einzelne sich nicht wirksam auf sie berufen und sie im Ernstfall auch durchsetzen könnte? Das Grundgesetz schützt die Grundrechte bereits dadurch, dass Artikel 1 Absatz 3 sowohl die Gesetzgebung (Legislative) als auch die vollziehende Gewalt (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative) bindet. Damit dürfen weder der Gesetzgeber noch die vollziehende Gewalt (z. B. öffentliche Verwaltung) noch die Gerichte die Grundrechte verletzen.
Falls sie dennoch in ihrer Tätigkeit Grundrechte verletzen, bietet das Grundgesetz dem Betroffenen mit der Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit, sich zu wehren.
Die Geschichte der Verfassungsbeschwerde
Erstmals vorgesehen war die Verfassungsbeschwerde bereits in der sogenannten Paulskirchenverfassung von 1849, die jedoch bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten politisch scheiterte. Lediglich die Idee von Grundrechten fand auch in den nachfolgenden Verfassungen Niederschlag.
Erst 1919 wurde in der Verfassung für Bayern der Rechtsbehelf einer Verfassungsbeschwerde wirksam eingeführt und nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Bayern und Hessen, die sie 1946 in den Landesverfassungen verankerten.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes entschieden sich schließlich gegen eine Übernahme der Verfassungsbeschwerde im Grundgesetz für Bundesebene. Erst 1951 wurde sie außerhalb der Verfassung durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) eingeführt. Weil sie in diesem einfachen Gesetz jederzeit abzuschaffen war, wurde sie letztlich 1969 in das Grundgesetz in Artikel 93 selbst aufgenommen, wo sie nur noch durch Verfassungsänderung aufgehoben werden könnte.
Zahlreiche Landesverfassungen sehen ebenfalls eine Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf auf Landesebene vor.
Gesetzliche Grundlagen
Geregelt ist die Verfassungsbeschwerde in Art. 93 Abs. 4a, Abs. 4b GG, wo die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Verfassungsbeschwerden festgelegt wird, sowie in §§ 90-95 BVerfGG. Letztere legen die Einzelheiten zum Verfahren fest, z. B. wer die Verfassungsbeschwerde einlegen darf, wie sie zu begründen ist oder auch welche Fristen zu beachten sind.
Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts
Ausschließlich zuständig für Verfassungsbeschwerden nach dem Grundgesetz ist das Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe. Es ist gegenüber allen anderen Verfassungsorganen selbständig und unabhängig und unterliegt seinerseits somit keiner Kontrolle. Das Gericht hat zwei Senate, die aus jeweils acht Richtern bestehen. Deren Amtszeit ist auf maximal 12 Jahre begrenzt. Um besondere Qualifikation und Lebenserfahrung der Richter zu gewährleisten, sollen pro Senat 3 Richter gewählt werden, die zuvor bereits mindesten drei Jahre an einem anderen obersten Bundesgericht tätig waren (Bundesgerichtshof, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitsgericht usw.).
Der Bundesgerichtshof entscheidet nicht nur über Verfassungsbeschwerden sondern auch über die Verwirkung von Grundrechten, die Verfassungswidrigkeit von Parteien, Organstreitigkeiten zwischen obersten Bundesorganen (z. B. Bundespräsident, Bundesrat, Bundestag) und die Vereinbarkeit von Bundesrecht und den einzelnen Landesrechten der Bundesländer.
Wer kann Verfassungsbeschwerde einlegen?
Jeder Grundrechtsträger kann sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die von ihm vermutete Grundrechtsverletzung wenden. Er muss jedoch von der Verletzung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Niemand darf also Verfassungsbeschwerde einlegen wegen einer Grundrechtsverletzung, die ihn selbst gar nicht trifft. Für die Gegenwärtigkeit genügt es aber, dass der Eingriff nicht weit zurück oder fern in der Zukunft liegt, sonst könnten zeitlich begrenzte Eingriffe, wie etwa grundrechtswidrige Festnahmen, Demonstrationsverbote o. ä. nachträglich nicht mehr der Grundrechtskontrolle unterzogen werden. Der Betroffene muss von der Verletzung auch unmittelbar betroffen sein, d. h. sie wirkt sich bereits auf ihn aus, ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedarf. Er wäre beispielsweise nicht unmittelbar betroffen, wenn die Verwaltung erst noch einen Verwaltungsakt aufgrund eines grundrechtswidrigen Gesetzes erlassen müsste, der dann zur Grundrechtsverletzung führt.
Weitere Voraussetzungen für Verfassungsbeschwerde
Akt der öffentlichen Gewalt: Der Eingriff gegen den sich der Beschwerdeführer wehrt, muss ein sogenannter „Akt der öffentlichen Gewalt“ sein. Dies können sein: alle Maßnahmen der Gesetzgebung (gegebenenfalls auch ein Unterlassen, wenn der Gesetzgeber hätte handeln müssen, um die Grundrechte zu wahren), alle Verwaltungsakte und auch alle gerichtlichen Endentscheidungen.
Rechtswegerschöpfung
Die Verfassungsbeschwerde ist keine zusätzliche Revisionsinstanz, die Urteile der anderen Gerichte abschließend prüft. Der Betroffene muss also vor Anrufung des Verfassungsgerichts alle gegebenen Rechtsmittel zur Beseitigung des verletzenden Aktes erfolglos eingelegt haben, sodass der Rechtsweg erschöpft ist. Dazu gehört auch, dass er in diesen Verfahren bereits die Verfassungswidrigkeit gerügt hat. Die Besonderheit der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf bewirkt, dass die Wirksamkeit oder Rechtskraft der gerügten Gesetze, Urteile oder Verwaltungsakte nicht durch die Einlegung der Beschwerde aufgehoben oder gehemmt werden.
Form und Frist
Der Beschwerdeführer muss die Verfassungsbeschwerde schriftlich und innerhalb eines Monats beim Bundesverfassungsgericht einlegen. Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe der grundrechtsverletzenden Maßnahme an den Betroffenen. Wird jedoch ein Gesetz angegriffen, so beträgt sie ein Jahr ab seinem Inkrafttreten.
Zur Begründung muss angegeben werden, welche konkrete Maßnahme (z. B. Gerichtsentscheidung oder Verwaltungsakt mit Datum, Aktenzeichen und Verkündungs- oder Zugangsdatum) beanstandet wird und welche Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte im Einzelnen dadurch verletzt sein sollen. Der Beschwerdeführer muss erklären, worin die Verletzung jeweils besteht und dazu auch die jeweiligen Urteile, Verwaltungsbescheide etc. inhaltlich wiedergeben bzw. als Kopie vorlegen.
Kostenfreiheit
Damit jedermann die Geltendmachung seiner Grundrechte möglich bleibt, ist das Verfahren der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich kostenfrei. Wird sie jedoch missbräuchlich eingelegt, darf das Verfassungsgericht eine Missbrauchsgebühr in Höhe von bis zu 2.600 € erheben, was jedoch nur selten vorkommt.
Die Entscheidung
Eine Kammer aus 3 Richtern des Verfassungsgerichts prüft vorab die Verfassungsbeschwerde auf ihre Zulässigkeit und Erfolgsaussichten hin. Fehlt es an den Zulässigkeitsvoraussetzungen oder hat sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, können die Richter die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen. Anderenfalls wird sie durch den zuständigen Senat zur Entscheidung angenommen.
Über die Verfassungsbeschwerde selbst wird (mit wenigen Ausnahmen) mündlich verhandelt. Stellen die Verfassungsrichter die Grundrechtsverletzung fest, heben sie den verletzenden Akt der öffentlichen Gewalt auf, d. h. Verwaltungsakte oder Gerichtsurteile werden aufgehoben, Gesetze für nichtig erklärt. In keinem Fall aber ersetzt das Gericht die grundrechtswidrige Maßnahme durch eine verfassungskonforme, es erlässt also kein neues Urteil, keinen Verwaltungsakt und auch kein neues Gesetz. Dies bleibt wiederum der jeweils zuständigen Stelle überlassen.
Verfassungsgericht als Wegweiser der Rechtsentwicklung
Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind in jedem Fall das letzte Wort zu einem Rechtsstreit mit Verfassungsbezug. Seine Bedeutung wird an folgender Beschreibung deutlich: „Das Grundgesetz gilt immer in der Form der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht.“
Zahlreiche Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden waren für die rechtspolitische Entwicklung in Deutschland maßgebend. Beispielhaft seien hier nur das Urteil zum Großen Lauschangriff, das Urteil über die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs nach der Fristenlösung, das Kruzifix-Urteil, das Kopftuch-Urteil („muslimische Lehrerin“), das Urteil über die Verfassungsmäßigkeit gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften oder erst in jüngerer Zeit zum Luftsicherheitsgesetz (Flugzeugabschuss bei Terrorgefahr) oder der Unzulässigkeit heimlicher Vaterschaftstests genannt.
(MIC)
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